Verfahrensinformation



Der Kläger wendet sich gegen die Entziehung seiner Fahrerlaubnis.


Nach einer Ermahnung des Klägers wegen fünf Punkten im Fahreignungsregister führten weitere Verstöße gegen straßenverkehrsrechtliche Vorschriften zum Stand von sieben Punkten. Die Fahrerlaubnisbehörde des Beklagten fertigte hierauf am 1. Dezember 2020 eine Verwarnung, deren Zustellung scheiterte. Wiederholte Fahrten trotz eines bestehenden Fahrverbots (21) führten zu weiteren 42 Punkten, die das Kraftfahrtbundesamt der Fahrerlaubnisbehörde am 21. März 2022 mitteilte. Die Fahrerlaubnisbehörde informierte den Kläger hierüber, gab ihm Gelegenheit, sich zu der beabsichtigten Entziehung seiner Fahrerlaubnis zu äußern und gewährte seinem Bevollmächtigten Akteneinsicht. Sodann entzog sie ihm mit Bescheid vom 6. Juli 2022 die Fahrerlaubnis.


Das Verwaltungsgericht hat die dagegen gerichtete Klage abgewiesen. Der Verwaltungsgerichtshof hat das Urteil bestätigt und die Berufung zurückgewiesen. Mit dem Schreiben vom 1. Dezember 2020 sei die Verwarnung bereits "ergriffen" worden, bevor die Fahrerlaubnisbehörde von den weiteren 42 Punkten Kenntnis erlangt habe. Eine Verringerung der Punktezahl finde daher nicht statt. Durch die Akteneinsicht sei die Verwarnung auch bekanntgegeben worden, womit die Stufen des Fahreignungs-Bewertungssystems durchlaufen seien. Die Fahrerlaubnisbehörde habe die Fahrerlaubnis folglich zu Recht entzogen, weil sich mehr als 8 Punkte ergeben hätten und der Kläger damit als ungeeignet zum Führen von Kraftfahrzeugen gelte.


Mit der vom Verwaltungsgerichtshof zur Klärung des Begriffs "ergreifen" zugelassenen Revision verfolgt der Kläger seine Klage weiter.


Urteil vom 04.09.2025 -
BVerwG 3 C 8.24ECLI:DE:BVerwG:2025:040925U3C8.24.0

Leitsätze:

1. Eine Verwarnung ist erst ergriffen im Sinne von § 4 Abs. 6 Satz 1 bis 3 StVG, wenn das Verwarnungsschreiben dem betroffenen Fahrerlaubnisinhaber zugegangen ist.

2. Für die Verringerung des Punktestandes nach § 4 Abs. 6 Satz 3 StVG sind die im Fahrerlaubnisregister eingetragenen und der Fahrerlaubnisbehörde am Tag des Ausstellens der ergriffenen Ermahnung oder Verwarnung nach § 4 Abs. 8 StVG übermittelten und damit bekannten Zuwiderhandlungen maßgebend.

  • Rechtsquellen
    StVG § 4 Abs. 2, 5, 6 und 8

  • VG Würzburg - 24.05.2023 - AZ: W 6 K 22.1189
    VGH München - 18.03.2024 - AZ: 11 BV 23.1193

  • Zitiervorschlag

    BVerwG, Urteil vom 04.09.2025 - 3 C 8.24 - [ECLI:DE:BVerwG:2025:040925U3C8.24.0]

Urteil

BVerwG 3 C 8.24

  • VG Würzburg - 24.05.2023 - AZ: W 6 K 22.1189
  • VGH München - 18.03.2024 - AZ: 11 BV 23.1193

In der Verwaltungsstreitsache hat der 3. Senat des Bundesverwaltungsgerichts auf die mündliche Verhandlung vom 4. September 2025 durch die Vorsitzende Richterin am Bundesverwaltungsgericht Dr. Philipp, die Richterin am Bundesverwaltungsgericht Dr. Kuhlmann, die Richter am Bundesverwaltungsgericht Rothfuß und Dr. Sinner und die Richterin am Bundesverwaltungsgericht Hellmann für Recht erkannt:

  1. Die Revision des Klägers gegen das Urteil des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs vom 18. März 2024 wird zurückgewiesen.
  2. Der Kläger trägt die Kosten des Revisionsverfahrens.

Gründe

I

1 Der Kläger wendet sich gegen die Entziehung seiner Fahrerlaubnis nach dem Fahreignungs-Bewertungssystem.

2 Mit Schreiben vom 26. September 2016 wurde er wegen des Erreichens von fünf Punkten im Fahreignungsregister ermahnt. Wegen des Erreichens von sieben Punkten fertigte die Fahrerlaubnisbehörde des Beklagten unter dem Datum des 1. Dezember 2020 eine Verwarnung. Die Verwarnung sollte zugestellt werden. Eine Postzustellungsurkunde kam jedoch nicht in Rücklauf. Daher stellte die Fahrerlaubnisbehörde dem Kläger mit Schreiben am 3. März 2021 eine Kopie der Verwarnung an dessen bisherige Anschrift zu mit der Bitte, den Erhalt der Verwarnung und dessen Zeitpunkt mitzuteilen. Der Kläger befand sich zu diesem Zeitpunkt in Haft, die er im Januar 2021 zur Verbüßung einer längeren Haftstrafe angetreten hatte. Am 21. März 2022 teilte das Kraftfahrt-Bundesamt der Fahrerlaubnisbehörde die Eintragung von 42 weiteren Punkten in das Fahreignungsregister mit. Dem lag das rechtskräftige Urteil des Amtsgerichts ... vom 16. Februar 2022 zugrunde, mit dem der Kläger wegen fahrlässigen Fahrens eines Kraftfahrzeugs trotz Fahrverbots in 21 Fällen zu einer Freiheitsstrafe von drei Monaten verurteilt worden war (§ 21 Abs. 1 Nr. 1, Abs. 2 Nr. 1 StVG). Der Kläger war über drei Wochen täglich gefahren, zuletzt am 11. Dezember 2020.

3 Mit Schreiben vom 31. Mai 2022 informierte die Fahrerlaubnisbehörde den Kläger darüber, dass sich der Punktestand auf acht oder mehr Punkte erhöht habe, weshalb seine Fahrerlaubnis zu entziehen sei. Seinem Bevollmächtigten wurde Akteneinsicht gewährt, der mit Schriftsatz vom 21. Juni 2022 vortrug, der Kläger habe weder die Verwarnung vom 1. Dezember 2020 noch deren Kopie erhalten. Mit Bescheid vom 6. Juli 2022 entzog die Fahrerlaubnisbehörde dem Kläger die Erlaubnis zum Führen von Kraftfahrzeugen.

4 Die dagegen erhobene Klage hat das Verwaltungsgericht abgewiesen. Der Verwaltungsgerichtshof hat die Berufung zurückgewiesen. Das Stufensystem des § 4 Abs. 5 StVG des Fahreignungs-Bewertungssystems sei ordnungsgemäß durchlaufen worden. Die Ermahnung sei dem vormaligen Bevollmächtigten des Klägers zugegangen. Die nicht nachzuweisende beziehungsweise gescheiterte Zustellung der Verwarnung vom 1. Dezember 2020 sei im Wege der Akteneinsicht durch den Bevollmächtigten geheilt worden (Art. 9 BayVwZVG). Eine Verringerung des Punktestandes sei nicht eingetreten. Entscheidend dafür sei die Frage, wann eine Maßnahme ergriffen sei. Dieser Zeitpunkt müsse von dem notwendigen Zugang einer Ermahnung und einer Verwarnung unterschieden werden. Ergriffen sei eine Ermahnung oder Verwarnung dann, wenn das jeweilige Schreiben aus Sicht der Fahrerlaubnisbehörde abschließend bearbeitet sei, was regelmäßig mit dem Tag des Ausstellens zusammenfallen dürfte. Der Gesetzgeber betrachte das Ergreifen als gestreckten Vorgang, der mit dem Ausstellen des entsprechenden Schriftstücks beginne. Der Wortlaut stelle auf das Tätigwerden und die Bearbeitung des Vorgangs ab. Nach § 4 Abs. 6 Satz 3 StVG komme es für die Verringerung des Punktestandes auf den Tag des Ausstellens im Sinne der Fertigstellung des Schriftstücks an. Es erscheine auch nicht sachgerecht, die Befugnis, eine Maßnahme der nächsten Stufe zu ergreifen, von Zustellrisiken abhängig zu machen. Den Sicherheitsinteressen der Allgemeinheit habe der Gesetzgeber Vorrang gegeben. Die Verwarnung des Klägers sei folglich bereits ergriffen gewesen, bevor die Fahrerlaubnisbehörde von der Eintragung weiterer 42 Punkte Kenntnis erlangt habe, weshalb der Punktestand nicht auf sieben Punkte verringert worden sei.

5 Mit der vom Verwaltungsgerichtshof mit Blick auf die Frage, wann eine Maßnahme im Sinne von § 4 Abs. 6 Satz 1 bis 3 StVG als ergriffen gelten könne, zugelassenen Revision verfolgt der Kläger sein Aufhebungsbegehren weiter. Der Auslegung des Verwaltungsgerichtshofs könne nicht gefolgt werden. Die Maßnahme einer Ermahnung oder Verwarnung unterteile sich zwar in mehrere Schritte. Aus Wortlaut und Systematik des Gesetzes ergebe sich aber, dass sie erst dann als "ergriffen" gelte, wenn sie den Betroffenen tatsächlich erreicht habe. Nur dann sei die vom Gesetzgeber beabsichtigte Informationsfunktion erfüllt. Diese Auffassung werde durch allgemeine Grundsätze des Verwaltungshandelns gestützt, wonach nicht zugegangene Maßnahmen gegenüber dem Betroffenen regelmäßig keine Rechtswirkung entfalteten und als nicht existent gälten. Einem anderen Verständnis stehe das Gebot der Normenklarheit entgegen. Wenn - wie hier - zwischen Abfassung und Zugang mehr als eineinhalb Jahre lägen, könne nicht auf die Abfassung abgestellt werden.

6 Der Beklagte verteidigt das angefochtene Urteil.

II

7 Die zulässige Revision des Klägers ist nicht begründet. Das angefochtene Urteil beruht nicht auf einer Verletzung von Bundesrecht (§ 137 Abs. 1 Nr. 1 VwGO). Der Verwaltungsgerichtshof ist zu Recht davon ausgegangen, dass der zur Entziehung der Fahrerlaubnis führende Punktestand sich nicht gemäß § 4 Abs. 6 Satz 3 StVG verringert hatte und die Fahrerlaubnis des Klägers daher zu entziehen war. Damit erweist sich der angefochtene Bescheid vom 6. Juli 2022 als rechtmäßig und verletzt den Kläger nicht in seinen Rechten (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO).

8 Der rechtlichen Beurteilung der Fahrerlaubnisentziehung ist das bei Erlass der letzten Behördenentscheidung, hier also des Bescheides vom 6. Juli 2022 geltende Straßenverkehrsgesetz zugrunde zu legen (stRspr, vgl. BVerwG, Urteil vom 10. Oktober 2024 - 3 C 3.23 - BVerwGE 183, 245 Rn. 9 m. w. N.). Das ist das Straßenverkehrsgesetz in der Fassung der Bekanntmachung vom 5. März 2003 (BGBl. I S. 310, 919), zuletzt geändert durch Art. 1 des Gesetzes zur Änderung des Straßenverkehrsgesetzes und des Pflichtversicherungsgesetzes - Gesetz zum autonomen Fahren vom 12. Juli 2021 (BGBl. I S. 3108). Maßgeblich sind die Bestimmungen des Fahreignungs-Bewertungssystems (§ 4 StVG), die - soweit von Bedeutung - in der Fassung des Gesetzes zur Änderung des Straßenverkehrsgesetzes, der Gewerbeordnung und des Bundeszentralregistergesetzes vom 28. November 2014 (BGBl. I S. 1802) anzuwenden sind.

9 Rechtsgrundlage der Fahrerlaubnisentziehung ist § 4 Abs. 5 Satz 1 Nr. 3 StVG. Nach dieser Bestimmung gilt der Inhaber einer Fahrerlaubnis als ungeeignet zum Führen von Kraftfahrzeugen und ist die Fahrerlaubnis zu entziehen, sobald sich in der Summe acht oder mehr Punkte ergeben. Vor der Entziehung der Fahrerlaubnis ist der Inhaber einer Fahrerlaubnis schriftlich zu ermahnen, sobald sich in der Summe ein Punktestand von vier oder fünf Punkten ergibt, und schriftlich zu verwarnen, sobald sich ein Punktestand von sechs oder sieben Punkten ergibt (§ 4 Abs. 5 Satz 1 Nr. 1 und 2 StVG). Die nach Landesrecht zuständige Behörde hat die Maßnahmen stufenweise zu ergreifen (§ 4 Abs. 5 Satz 1 StVG). Sie darf eine Maßnahme nach Abs. 5 Satz 1 Nr. 2 (Verwarnung) oder Nr. 3 (Entziehung) erst ergreifen, wenn die Maßnahme der jeweils davorliegenden Stufe bereits ergriffen worden ist (§ 4 Abs. 6 Satz 1 StVG).

10 1. Dieses Stufensystem hat der Kläger vor der Entziehung der Fahrerlaubnis ordnungsgemäß durchlaufen. Im Revisionsverfahren ist unstreitig, dass der Kläger wegen Erreichens von fünf Punkten gemäß § 4 Abs. 5 Satz 1 Nr. 1 StVG ermahnt wurde. Ebenfalls unstreitig ist, dass sich nachfolgend sieben Punkte ergeben haben (§ 4 Abs. 2 Satz 3 StVG), die Anlass für das Verwarnungsschreiben vom 1. Dezember 2020 waren. Unbeschadet der Frage, ob die Maßnahmen Ermahnung und Verwarnung bereits mit der abschließenden Bearbeitung des Schreibens oder erst mit dessen Zugang ergriffen sind (vgl. nachstehend 2. a)), war das Stufensystem des § 4 Abs. 5 Satz 1 StVG vor der Entziehung der Fahrerlaubnis auch hinsichtlich der Verwarnung ordnungsgemäß durchlaufen. Der Verwaltungsgerichtshof hat beruhend auf Art. 9 des Bayerischen Verwaltungszustellungs- und Vollstreckungsgesetzes festgestellt, dass die nicht nachzuweisende beziehungsweise gescheiterte Zustellung der Verwarnung durch Akteneinsicht im Juni 2022 und damit vor der Entziehung der Fahrerlaubnis geheilt worden ist. Das stellt auch die Revision nicht in Frage.

11 2. Streitig ist allein, ob sich der Punktestand gemäß § 4 Abs. 6 Satz 3 StVG verringert hat und der Beklagte deshalb die Fahrerlaubnis zu Unrecht entzogen hat. Die Voraussetzungen einer Verringerung des Punktestandes liegen jedoch nicht vor.

12 Die Regelung über die Verringerung von Punkten knüpft an den Fall an, dass eine Maßnahme der davorliegenden Stufe noch nicht ergriffen worden ist (§ 4 Abs. 6 Satz 2 StVG). Das Stufensystem verpflichtet, zunächst die noch nicht ergriffene Maßnahme zu ergreifen. Zugleich ist der Punktestand nach Maßgabe des § 4 Abs. 6 Satz 3 StVG zu verringern.

13 Ob eine Maßnahme im Sinne von § 4 Abs. 6 Satz 2 StVG noch nicht ergriffen worden ist, beantwortet sich abhängig davon, wann eine Maßnahme zu ergreifen ist. Zu ergreifen ist eine Maßnahme, sobald sich die für die jeweilige Maßnahme erforderlichen Punktestände ergeben (§ 4 Abs. 5 Satz 1 StVG). Punkte ergeben sich mit der Begehung einer Straftat oder Ordnungswidrigkeit im Sinne von § 4 Abs. 2 Satz 1 StVG, sofern sie rechtskräftig geahndet wird (§ 4 Abs. 2 Satz 3 StVG). Das Tätigwerden der Fahrerlaubnisbehörde setzt mithin die Kenntnis von den Zuwiderhandlungen und deren rechtskräftiger Ahndung voraus. Die erforderliche Kenntnis folgt nach der Konzeption des Fahrerlaubnis-Bewertungssystems aus den Eintragungen im Fahreignungsregister, die durch das Kraftfahrt-Bundesamt bei Erreichen der für das Ergreifen von Maßnahmen bestimmten Punktestände zu übermitteln sind (§ 4 Abs. 8 StVG). Maßgeblich für das Ergreifen einer Maßnahme ist der Kenntnisstand der zuständigen Fahrerlaubnisbehörde, der sich aus den Mitteilungen des Kraftfahrt-Bundesamtes ergibt (BVerwG, Urteil vom 26. Januar 2017 - 3 C 21.15 - BVerwGE 157, 235 Rn. 25).

14 Vorliegend hatte der Beklagte zum 1. Dezember 2020 - dem Zeitpunkt der Ausstellung der Verwarnung - Kenntnis von sieben Punkten und damit dem Erreichen des für die Verwarnung erforderlichen Punktestandes. Von den weiteren, zum Erreichen des Punktestandes der Fahrerlaubnisentziehung führenden 42 Punkten erhielt er Kenntnis durch Mitteilung des Kraftfahrt-Bundesamtes am 21. März 2022.

15 a) Nach Auffassung des Verwaltungsgerichtshofs war die Verwarnung bereits mit ihrer Ausstellung am 1. Dezember 2020 ergriffen. Folglich wäre die Verwarnung vor der Kenntnis von den weiteren Punkten erfolgt und damit bereits kein Fall des § 4 Abs. 6 Satz 2 StVG gegeben. Die Möglichkeit einer Verringerung nach § 4 Abs. 6 Satz 3 StVG wäre danach von vornherein nicht eröffnet.

16 Dieser Auslegung vermag der Senat nicht zu folgen. Eine Verwarnung ist erst ergriffen im Sinne von § 4 Abs. 6 Satz 1 bis 3 StVG, wenn das Verwarnungsschreiben dem betroffenen Fahrerlaubnisinhaber zugegangen ist. Richtig ist, dass das Wort "ergreifen" seiner Bedeutung nach für ein Verständnis offen ist, das den Beginn einer Handlung kennzeichnet. Allerdings verwendet das Gesetz die zu ergreifenden Maßnahmen als Oberbegriff dafür, dass die betreffenden Fahrerlaubnisinhaber schriftlich zu ermahnen beziehungsweise zu verwarnen sind (§ 4 Abs. 5 Satz 1 Nr. 1 und 2 StVG), wovon erst mit dem Zugang des jeweiligen Schreibens die Rede sein kann. Dem entspricht, dass der Betroffene mit der Maßnahme über den Punktestand informiert werden soll. Zugleich hat der Gesetzgeber im Zuge der Änderungen des § 4 Abs. 5 und 6 StVG durch das Gesetz vom 28. November 2014 betont, dass der Erziehungsgedanke gegenüber den Sicherheitsinteressen zurücktrete und es nicht darauf ankomme, dass eine Maßnahme den Betroffenen vor der Begehung weiterer Verstöße erreiche. Auch wenn damit die Chance einer Verhaltensänderung nicht gegeben werde, sei dies kein Grund, über bestimmte Verkehrsverstöße hinwegzusehen und diese bei der Beurteilung der Fahreignung auszublenden (BT-Drs. 18/2775 S. 9 f.). Diese Abkehr vom Erziehungsgedanken (vgl. BVerwG, Urteil vom 25. September 2008 ‌- 3 C 3.07 - BVerwGE 132, 48 Rn. 33) vollzieht sich insbesondere in dem neu gefassten § 4 Abs. 6 StVG. Danach wird die im Gesetz verbliebene Verringerung des Punktestandes wirksam mit dem Tag des Ausstellens der ergriffenen Maßnahme (§ 4 Abs. 6 Satz 3 StVG). Die Ausstellung stellt sich danach aber lediglich als ein Schritt der ergriffenen Maßnahme und nicht bereits selbst als ergriffene Maßnahme dar. Zustellrisiken hat der Gesetzgeber im Übrigen nicht in den Blick genommen.

17 b) Ist danach eine schriftliche Verwarnung erst ergriffen, wenn das Schreiben dem betroffenen Fahrerlaubnisinhaber zugegangen ist, so führt dies gleichwohl nicht zu einer Verringerung des Punktestandes. Die hier in Rede stehenden 42 weiteren Punkte werden von der Verringerung nicht erfasst, womit sich die Annahme des Verwaltungsgerichtshofs, der zur Fahrerlaubnisentziehung führende Punktestand habe sich nicht verringert, im Ergebnis als zutreffend erweist.

18 Eine Verringerung nach § 4 Abs. 6 Satz 3 StVG setzt den Fall des Satzes 2 und damit voraus, dass die Maßnahme der davorliegenden Stufe noch nicht ergriffen worden ist. Ein solcher Fall war vorliegend gegeben. Zum Zeitpunkt der Kenntnis von der Eintragung 42 weiterer Punkte und damit dem Erreichen des zur Fahrerlaubnisentziehung führenden Punktestandes von insgesamt 49 Punkten (§ 4 Abs. 5 Satz 5 und 6 Nr. 1 StVG) am 21. März 2022 war die Verwarnung zwar bereits ausgestellt, jedoch mangels erfolgreicher Zustellung noch nicht ergriffen.

19 Gleichwohl führt § 4 Abs. 6 Satz 3 StVG nicht zu einer Verringerung des Punktestandes.

20 Nach der Rechtsprechung des Senats ist der durch die Mitteilungen des Kraftfahrt-Bundesamtes vermittelte Kenntnisstand der Fahrerlaubnisbehörde maßgebend für die Rechtmäßigkeit der Maßnahmen nach § 4 Abs. 5 StVG; das gilt auch für die Verringerung des Punktestandes nach § 4 Abs. 6 Satz 3 StVG (BVerwG, Urteil vom 26. Januar 2017 - 3 C 21.15 - BVerwGE 157, 235 Rn. 25). Bezugspunkt der Verringerung ist der Punktestand am Tag des Ausstellens der Verwarnung. Mit Wirkung von diesem Tag verringert sich der Punktestand im Fall der Verwarnung auf sieben Punkte (§ 4 Abs. 6 Satz 3 Nr. 2 StVG). Ergänzend bestimmt § 4 Abs. 6 Satz 4 StVG, dass Punkte für Zuwiderhandlungen, die vor der Verringerung nach Satz 3 - also vor dem Tag des Ausstellens der Verwarnung - begangen worden sind und von denen die zuständige Behörde erst nach der Verringerung Kenntnis erlangt, den Punktestand erhöhen. Nach der Gesetzesbegründung legt § 4 Abs. 6 Satz 4 StVG damit fest, dass die Punkte, die mangels Bekanntheit nicht von einer Verringerung erfasst werden, das Ergebnis der Verringerung erhöhen (BT-Drs. 18/2775 S. 10). Anknüpfend an die Rechtsprechung des Senats (BVerwG, Urteil vom 26. Januar 2017 - 3 C 21.15 - ‌BVerwGE 157, 235 Rn. 22) sind für die Verringerung des Punktestandes nach § 4 Abs. 6 Satz 3 StVG folglich die im Fahrerlaubnisregister eingetragenen und der Fahrerlaubnisbehörde am Tag des Ausstellens der Ermahnung oder Verwarnung nach § 4 Abs. 8 StVG übermittelten und damit bekannten Zuwiderhandlungen maßgebend. Verringern kann sich nach § 4 Abs. 6 Satz 3 StVG der Stand nur solcher Punkte, die der Fahrerlaubnisbehörde am Tag des Ausstellens der Ermahnung oder Verwarnung aufgrund einer Mitteilung des Kraftfahrt-Bundesamtes bereits bekannt waren.

21 Maßgeblich ist damit die Verwarnung, die die Fahrerlaubnisbehörde am 1. Dezember 2020 ausgestellt hat. Etwas anderes ergibt sich nicht daraus, dass die Verwarnung mangels Zugang zum Zeitpunkt der Mitteilung der weiteren 42 Punkte noch nicht ergriffen war. Die in einem solchen Fall gemäß § 4 Abs. 6 Satz 2 StVG bestehende Verpflichtung, eine noch ausstehende Verwarnung zu ergreifen, bedeutet nicht, dass eine bereits ausgestellte Verwarnung erneut ausgestellt werden müsste. Ist die Verwarnung bei Eingang einer Mitteilung des Kraftfahrt-Bundesamtes über das Erreichen von acht oder mehr Punkten dem Fahrerlaubnisinhaber noch nicht zugegangen, genügt es, wenn die Zustellung der Verwarnung noch läuft, ihren Zugang abzuwarten, oder, wenn die Zustellung gescheitert ist, den Zugang zu bewirken. Eine erneute Ausstellung der Verwarnung fordert das Gesetz nicht. Eine solche Verpflichtung würde die Entscheidung des Gesetzgebers, maßgeblich an die Ausstellung anzuknüpfen, unterlaufen. Erhält eine Fahrerlaubnisbehörde zwischen Ausstellung und Zugang Kenntnis von neuen Punkten, müsste sie die betroffene Verwarnung oder Ermahnung erneut ausstellen, womit die zwischenzeitlich bekannt gewordenen Punkte - entgegen der Konzeption des Gesetzes - stets der Verringerung unterlägen; die zugrundeliegenden Verkehrsverstöße würden bei der Beurteilung der Fahreignung ausgeblendet. Eine - wie hier - ungewöhnlich lange Zeit zwischen Ausstellung und Zugang wirkt sich im Übrigen nicht zum Nachteil Betroffener aus, weil die nachträglich bekannt gewordenen Punkte wegen der Maßgeblichkeit der Ausstellung auch dann nicht verringert würden, wenn die betroffene Verwarnung oder Ermahnung zeitnah im normalen Postlauf zugegangen wäre.

22 Vorliegend hatte der Beklagte zum Zeitpunkt des Ausstellens der Verwarnung am 1. Dezember 2020 Kenntnis von sieben Punkten. Folglich führte die in § 4 Abs. 6 Satz 3 Nr. 2 StVG für eine Verwarnung vorgesehene Verringerung auf sieben Punkte zu keiner Veränderung. Mit den nach der Ausstellung der Verwarnung bekannt gewordenen Punkten erhöhte sich der Punktestand in der Summe auf 49 Punkte, womit der Punktestand von acht oder mehr Punkten erreicht und damit - nachdem das Maßnahmensystem durchlaufen war - die Fahrerlaubnis zu entziehen war (§ 4 Abs. 5 Satz 1 Nr. 3 StVG).

23 Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2 VwGO.